Johannes Kepler• Weltharmonik acquis edition

Johannes Kepler

 Harmonice Mundi, Weltharmonik. Unter diesem Titel veröffentlichte Johannes Kepler (1571 bis 1630) vor 400 Jahren ein Werk, das es in sich hatte. Kepler stand damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Schon in jungen Jahren war er kaiserlicher Hofmathematiker der Habsburger geworden. Nun aber stellte er eine geradezu ungeheuerliche These auf: In den tiefsten Strukturen ist das Weltall schön. Damit hatte er etwas durchaus Präzises im Sinn: eine Harmonie für das geistige Ohr. Johannes Kepler wollte die Gesetze, nach denen die Planeten um die Sonne ziehen, als eine gigantische Partitur lesen. Er trieb die Idee sogar noch auf die Spitze, indem er den Planeten einzelne Tonintervalle zuschrieb: dem Mars etwa die Quinte oder dem Saturn die große Terz. Mehr noch, laut Kepler spielen die Planeten ihre Musik in Dur und Moll, und ein jeder musiziert in einer eigenen Tonart. Sogar einen vierfachen Kontrapunkt hatte Kepler in den Sphärenklängen ausgemacht und erklärt, Saturn und Jupiter sängen im Bass, Erde und Venus im Alt, Mars im Tenor und Merkur im Diskant. Man ist heute geneigt, Keplers Sphärenmusik als esoterische Schwärmerei abzutun. Doch Kepler war nicht irgendwer. Neben Kopernikus, Galilei und Newton verdanken wir ihm die entscheidenden Impulse der neuzeitlichen Physik, auf denen wiederum unsere heutige moderne Physik beruht. Wer dieser vier Genies nun der Größte war, darüber streiten die Gelehrten. Für die Frage nach der Schönheit in der Physik ist der Streit müßig, denn hier waren sich alle vier einig: Weil das Weltall für das geistige Auge schön ist, eignet sich unser Sinn für Ästhetik ausgezeichnet als Kompass auf der Suche nach der physikalischen Wahrheit. Warum aber kam jemand wie Kepler auf diese Idee? Weil er damit erstaunlichen Erfolg hatte. Die Platonischen Körper sind aus deckungsgleichen Regulären Vielecken (hellgraue Flächenstücke), also Vielecken mit gleichen Winkeln und gleichen Kanten, zusammengesetzt – und zwar so, dass die Kanten eines solchen Körpers überall im selben Winkel aufeinandertreffen. Es gibt nur fünf Körper mit diesen beiden Eigenschaften, nämlich: Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder, Würfel und Tetraeder. Nach Abschluss seines Theologiestudiums, im Alter von 24 Jahren, hatte Johannes Kepler verstehen wollen, warum es nicht zwanzig oder hundert, sondern genau sechs Planeten gab – Uranus und Neptun waren damals noch nicht entdeckt. Seine These dazu war so bestechend wie kühn. Seit der Antike wusste man, dass es exakt fünf sogenannte Platonische Körper gibt: Das sind diejenigen räumlichen Figuren, deren Flächen von einer einzigen Sorte regulärer Vielecke aufgespannt werden und deren Ecken allesamt gleichartig sind. Schon für sich allein ist jedes dieser Gebilde mathematisch schön – einfach der ihnen innewohnenden Symmetrien wegen. Doch hiermit hielt sich Kepler nicht lange auf; stattdessen brachte er die fünf Körper zusammen und schuf damit eine hochkomplexe Einheit: Jeder der fünf Körper umschreibt eine Innenkugel und wird von einer Außenkugel umschrieben. Daher lassen sich die Platonischen Körper auf ansprechende Weise ineinander verschachteln; die Innenkugel des größten ist die Außenkugel des zweitgrößten Körpers, dessen Innenkugel wiederum als Außenkugel des drittgrößten Körpers genommen wird, und so weiter. Wie viele Sphären – das heißt: wie viele Kugeloberflächen – werden dabei insgesamt aufgespannt? Genau sechs. Für jeden der fünf Platonischen Körper je eine Außenkugel, und dann noch die Innenkugel des innersten Körpers. Es gibt laut Kepler also deshalb sechs Planeten, weil die von den Körpern aufgespannten Sphären genau sechs abgezirkelte Regionen des Weltalls darbieten, in denen die Planeten jeweils ihren Bewegungsgewohnheiten nachgehen. In einem perfekt aufgebauten Weltall ist kein Platz für mehr Planeten. Und ein Weltall mit weniger Planeten wäre Platzverschwendung, mithin ein ästhetisches Manko. Doch was ist das für ein lausiges Argument! Ist es nicht armselig, irgendeine passende mathematische Tatsache herbeizuzitieren, um die vorab bekannte, zufällige Zahl der Planeten daraus „abzuleiten“? – Das Schönste kommt erst noch. Jedes physikalische Modell muss sich in der Prognose dessen bewähren, was man nicht in die Modellkonstruktion eingebaut hat. Und an diesem Punkt wird die Geschichte wild. Die ineinandergeschachtelten Körper bestimmen nämlich exakte Größenverhältnisse der eingeschriebenen Kugeloberflächen. Wie Kepler sofort klar war, ergibt sich daraus eine Prognose über die Abstände der Planetenbahnen. So müsste der Jupiterbahn ein exakt dreimal größerer Radius zukommen als der Marsbahn; und das Verhältnis von Venus- zu Merkurbahn wäre die Wurzel aus 3 zu 3. Als Kepler seine Modellzahlen mit den Beobachtungswerten verglich, wurde ihm schwindelig. In zwei Fällen waren es Volltreffer (mit einem Fehler von weniger als einem Promille). Und in den übrigen war der Fehler zwar etwas größer, aber immer noch verblüffend klein. Wer nun einzig und allein den empirischen Daten traut, kann über diesen Fehler nicht hinweggehen und muss Keplers Modell als widerlegt betrachten – Fehler ist Fehler. Aber so funktioniert Physik nicht. Wenn das Modell nicht zu den Daten passt, trifft die Schuld nicht notwendig das Modell; sie kann bei den Daten liegen. Diese werden auch in der Astronomie durch Messung erhoben, zuweilen unter großen Schwierigkeiten. Da liegt es auf der Hand, dass sie nicht völlig fehlerfrei sein können. Alles kommt auf das Ausmaß der Diskrepanz zwischen Modell und Messwert an. Im Fall des Keplerschen Sphärenmodells war sie winzig. Um ein Gespür für ihre Größenordnung zu wecken, möchte ich Sie zu einer Lotterie gegen Kepler einladen: Fünf Mal dürfen Sie aus tausend Losen ziehen, auf denen jeweils eine Nummer zwischen 0,001 und 1,000 steht – also 0,001, 0,002 und so weiter. Ihre Losnummer soll jedes Mal Ihre zufällige Schätzung für das Verhältnis jeweils benachbarter Planetenbahnen darstellen. Wie groß ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre ausgelosten Zahlen besser zum vermessenen Sonnensystem passen als die Keplers? Die Antwort: weniger als 1 zu 200 000. Das entspricht der Wahrscheinlichkeit, beim Münzwurf siebzehn Mal hintereinander Kopf zu werfen. Kepler war Mathematiker genug, um zu dem Schluss zu kommen: Es kann kein Zufall sein, dass sein ästhetisches Modell so gut zu den bekannten Daten passt. Warum er sein Leben lang an der Schönheit als Richtschnur astronomischer Erkenntnis festgehalten hat, kann man verstehen. Und seither zieht sich dies wie ein roter Faden durch die Physikgeschichte: Immer wieder setzten bedeutende Physiker auf Modelle und Theorien von besonderer mathematischer Schönheit – und immer wieder erzielten sie damit Prognosen von unerwarteter Treffsicherheit. Der Wahnsinn hat Methode. Wer dem Schönheitssinn physikalisch trotzdem nicht über den Weg traut, muss einer beispiellosen Kette von Zufallstreffern das Wort reden. Oder er muss das historische Ausmaß des Erfolgs verharmlosen. Diesen Weg hat zuletzt die Frankfurter Physikerin Sabine Hossenfelder in ihrem brillanten Lamento über den Schönheitssinn vieler ihrer Fachkollegen gewählt (Sonntagszeitung vom 1.7.2018). Wohl um Kepler nicht als Scharlatan dastehen zu lassen, behauptet sie, er habe sich in späteren Jahren von seinem platonischen Modell getrennt, und zwar sobald ihm bessere astronomische Daten zur Verfügung standen. Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Veröffentlichung seines Modells in dem Werk „Mysterium Cosmographicum“ (Das Weltgeheimnis) von 1596 brachte er diese Schrift ein zweites Mal ohne Eingriffe in den Originaltext heraus. Im Anhang korrigierte er allerlei physikalische Patzer der Erstausgabe. Aber an der ästhetischen Kernidee des Buchs hat er in seinen Korrekturen ausdrücklich nicht gerüttelt. Und die Weltharmonik aus dem Jahr 1619 trat nicht an die Stelle der ursprünglichen Idee, sie war deren musikalische Verfeinerung. Heute sind Keplers ästhetische Modelle des Weltalls zwar obsolet – weil inzwischen zwei Planeten hinzugekommen sind, für die er keinen Platz vorsehen konnte, und weil wir inzwischen Grund zu der Annahme haben, dass die Anzahl der Planeten unserer Sonne keine grundlegende Tatsache der Welt darstellt. Aber das ändert nichts daran, dass sich auch heute viele physikalische Grundlagenforscher an ästhetischen Maximen orientieren: Wenn eine fundamentale Theorie unseren mathematischen Schönheitssinn anspricht, dann wird dies als ein ernstzunehmendes Argument zugunsten der Theorie angesehen. Sabine Hossenfelder beklagt, dass sich dieses Prinzip in letzter Zeit totgelaufen habe. Seit Jahrzehnten, so moniert sie, optimierten heutige Grundlagenforscher die Ästhetik ihrer Theorien – und scherten sich keinen Deut darum, dass die empirischen Belege ausbleiben. Schlimmer noch, die Arbeit einer ganzen Generation von Physikern – Hossenfelders Generation – sei durch sinnlosen Schönheitskult auf Abwege geraten. Stimmt das? In der Tat fehlt es seit längerem an einem entscheidenden Durchbruch, und die Leichen im Keller der heutigen Grundlagenforschung stinken zum Himmel. Es mag also sein, dass Hossenfelder mit ihrem pessimistischen Blick auf die Gegenwart recht hat. Doch ebenso gut könnte sie zu früh die Geduld verloren haben. Ein Blick zurück auf Kepler ist da vielleicht hilfreich. Von dessen Durchhaltevermögen könnte sich mancher heute eine Scheibe abschneiden. Als Kepler sich nämlich um das Jahr 1600 der besten verfügbaren Himmelsdaten bemächtigt hatte, wollte er sein Modell überprüfen und insbesondere wissen, auf was für einer Bahn genau der Mars die Sonne umrundet. Denn Kepler wusste, dass der Abstand des Planeten von der Sonne schwankt, die Sphären in seinem platonischen Modell also eine endliche Dicke haben mussten. Aber welcher mathematischen Form folgte die Planetenbahn darin genau? Eine Hypothese nach der anderen scheiterte, die Zahlen passten hinten und vorne nicht. Jahrelang ging das so. Kepler rechnete sich an den Rand seiner Kräfte. Es hätte tragisch enden können. Heute wissen wir dank Keplers Zähigkeit, dass die Planetenbahnen Ellipsen sind. Warum aber hat er die Ellipsenbahn nicht einfach aus den Beobachtungsdaten abgelesen? Weil die Ellipse, so wie jede andere Hypothese, keineswegs eindeutig von den Daten erzwungen wurde. Da es immer noch reale Daten waren, also Daten voller Fehler, konnte es keinen perfekten Fit geben. Kepler musste also schummeln, musste die Daten hier und dort zurechtbiegen, musste sie beschönigen – nur wo, zum Teufel? Der amerikanische Astronom und Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich beschrieb es so: „Kepler hat die Daten weit kreativer genutzt als jemand, der bloß eine Kurve an empirische Datenpunkte anpassen will.“ Kreativität. Positivistisch gesinnte Zeitgenossen wie Sabine Hossenfelder unterschätzen den Wert dieses menschlichsten aller Erkenntnismittel der Physik. Denn um es zu wiederholen: Wie viele Daten auch immer wir zusammentragen mögen, nie sind es ausschließlich diese Daten, die bei unserer theoretischen Arbeit den Ausschlag geben. Ob wir eine Theorie akzeptieren, hängt nicht allein davon ab, wie exakt sie zur Empirie passt, sondern auch von weiteren Kriterien. Von ihrer Schönheit zum Beispiel. Unser Sinn für Ästhetik beflügelt die naturwissenschaftliche Kreativität aber nicht allein durch erhabene Großartigkeit wie im Fall der fünf Platonischen Körper. Wie sich gerade an Kepler sehr gut zeigen lässt, stützt sich das kreative Genie in der Physik auch im Kleinen auf den Schönheitssinn. Es war eine ungeheure schöpferische Leistung, mit der Kepler in jahrelanger Rechnerei die Daten immer wieder neu geformt, umgeformt, geschönt, ausgewählt, umgeordnet, verworfen und erneut einbezogen hat. Chromatische Aberration ist ein Effekt, der sich bei Betrachtung eines weißen Himmelskörpers durch Teleskope der Newtonzeit bemerkbar macht. Das Bild wird links wie rechts von Farbsäumen verschmutzt und verliert dadurch an Schärfe; die Farben stören die Reinheit des Bildes - höchst unschön. Foto: Archiv Diese Art der Kreativität haben wir bislang nur schemenhaft vor Augen; in den meisten kritischen Auseinandersetzungen mit Keplers Schönheitssinn ist sie übersehen worden. Dabei war sie eine treibende Kraft in der gesamten Geschichte der neuzeitlichen und modernen Physik. Besonders stark zeigt sich die Kreativität des Physikers, wenn er die empirisch zu beobachtenden Phänomene allererst selbst erzeugt. Anders als Astronomen, die den Himmel nur beobachten, ohne ins Geschehen einzugreifen, können Experimentatoren über das Empirische eine gewisse Macht ausüben, indem sie es mitgestalten. Wie und wo ihnen bei dieser Gestaltungsarbeit der Sinn für Schönheit zu Hilfe kommt – diese Frage ist von den meisten Verächtern des physikalischen Schönheitssinns gar nicht erst gestellt worden. Doch eignen sich Experimente besonders gut, um sich über den Schönheitssinn von Physikern Klarheit zu verschaffen und Verbindungen zur Ästhetik in den Künsten zu ziehen. Im Vergleich zu Theorien sind Experimente angenehm konkret. Man kann sie anfassen und sehen, so wie viele Kunstwerke. Und man kann jahrelang an ihnen feilen, ihre Präsentation optimieren, wohlkalkulierte Überraschungen fürs Publikum einbauen – nicht anders als in den Künsten. Einer der größten Experimentierkünstler der Neuzeit war Isaac Newton (1643 bis 1727). Mit großer kreativer Energie formulierte er nicht nur eine mathematisch durchgeformte Mechanik, sondern schuf 1704 auch die früheste ernstzunehmende Theorie des Lichts und der Farben. Hier lässt sich sein Sinn für Ästhetik besonders gut nachempfinden. Albert Einstein – der wohl genialste physikalische Ästhet aller Zeiten – jubelte 1931 in seinem Vorwort zur Neuausgabe der newtonschen „Opticks“: „Die Natur lag vor ihm wie ein offenes Buch, dessen Schrift er mühelos lesen konnte. Um das vielfältige Erfahrungsmaterial auf eine einfache Ordnung zurückzuführen, stützte er sich auf Begriffe, die ihm aus der Erfahrung wie von selbst zuflogen – aus den schönen Experimenten, die er wie Spielzeuge aufbaute und deren Reichtum er liebevoll im Detail beschrieb.“ Newtons experimentelle Erfolgsserie fing an mit seinem Ärger über die miese Qualität der damaligen Teleskope, deren Bilder wegen eines Farbenschmutz-Effektes unscharf waren, der sogenannten chromatischen Aberration. Physiker empfinden gegen unsaubere Versuchsergebnisse einen ähnlichen ästhetischen Widerwillen wie Musiker gegen verstimmte Instrumente. Umgekehrt schätzen sie die Schönheit der Sauberkeit – so wie manch ein Porträtmaler der Renaissance. Der optische Farbenschmutz in den Teleskopen der Newtonzeit war hartnäckig und ließ sich nicht beseitigen. An diesem Punkt gelang Newton ein genialer Zug. Ähnlich wie auch Künstler zuweilen auf eine Änderung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten abzielen, so änderte Newton unseren Blick. Statt sich mit der Verringerung der störenden Farben abzuplagen, richtete er auf sie die volle Aufmerksamkeit, rückte sie ins Zentrum und verstärkte sie massiv. Das Ergebnis ist eine Ikone neuzeitlicher Physik. Auf Fotografien sieht dieses Spektrum schnell etwas kitschig aus. Die experimentelle Wirklichkeit ist aber weit intensiver und spricht unseren Schönheitssinn unmittelbar an. Direkt sinnlich erscheint es uns, fast überwältigend und schockierend schön: Unerhört leuchtende Farben größter Sättigung verlieren sich auf mysteriöse Weise im Finsteren. Kein Wunder, dass sich dieser hochästhetische experimentelle Befund blitzschnell über Europa verbreitete, nicht anders als manche Malweise desselben Jahrhunderts. Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese Art farbiger Prachtentfaltung ist nicht die einzige Aufgabe der Malerei, aber es wurden Gemälde geschaffen, deren Ästhetik wesentlich darin gründet. Genauso gibt es in der Physik Experimente, deren ästhetische Durchschlagskraft zu einem nicht geringen Teil auf Pracht beruht, ohne dass dies auf alle Experimente zuträfe. Nun kennt fast jeder Newtons Spektrum aus dem Schulunterricht. Doch wie viel ästhetischer Gestaltungswille hinter dem Experiment steckt, weiß kaum jemand. So wie ein Brueghel musste auch Newton hart arbeiten, bis das Ergebnis höchsten ästhetischen Ansprüchen genügte (siehe Grafik „Newtons Weißanalyse“). Er brauchte ein Prisma mit ganz bestimmten Winkeln, es musste präzise symmetrisch ausgerichtet werden, und der Abstand zwischen Prisma und Auffangschirm musste erheblich größer sein als der, mit dem seine Vorgänger es probiert hatten. Nur so konnte es Newton gelingen, die zuvor als Schmutz abgetanen Farben provokant ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Ihm war bewusst, was er da tat. Er inszenierte sein Experiment mit der größtmöglichen Überraschungskraft und kündete stolz von der aufreizenden Extravaganz seines Spektrums. Schmutz, Provokation, Überraschung – all das kennen wir auch aus der Malerei des 20. Jahrhunderts. In der Tat war es eine Innovation von Dadaisten und gleichgesinnten Malern etwa der Wiener Szene der Aktionskunst, dem Schmutz und Kaputten eine Bühne zu bereiten. Der Experimentator Isaac Newton war ihnen mehr als zwei Jahrhunderte voraus. Aber Moment mal: war nicht vorhin vom ästhetischen Wert sauberer Versuchsresultate die Rede? Und jetzt soll es plötzlich auf den Schmutz ankommen? Allerdings; beide Werte sind in der Experimentierkunst Newtons von Belang. Nicht anders als in der Kunst kann eine experimentelle Errungenschaft mit ihrer Sauberkeit prunken oder aber mit ihrer überraschenden Kraft, unsere Wahrnehmungsgewohnheiten zu ändern. Oder mit beidem. Und mit vielem mehr. Weder in der Kunst noch in der Physik gibt es den einen ästhetischen Wert, der alle anderen zu übertrumpfen vermöchte. Nachdem Newton zum Beispiel mit seinem herrlichen Experiment aus dem sauberen weißen Sonnenlicht die bunten Bestandteile herausgeholt hatte, die darin stecken, stellte er eine naheliegende Frage: Wenn alle diese Farben im weißen Licht stecken sollen – muss sich dann das bunte Licht des Sonnenspektrums nicht ebenso gut wieder in weißes Licht zurückverwandeln lassen? Schöne Idee; was vorwärts funktioniert, muss auch rückwärts klappen. Doch die Sache wollte ihm zunächst nicht recht gelingen. Newtons allererstes Experiment zur Weißherstellung ließ zu wünschen übrig, und nur mit gutem Willen konnte man die Dreckeffekte übersehen, die das gewonnene „Weiß“ störten. Statt sich damit abzufinden und die Sache kurzerhand verbal zu beschönigen, wie es nur zu oft geschieht, versuchte er es immer wieder. Innerhalb von mehr als dreißig Jahren veröffentlichte er ein halbes Dutzend Weißsynthesen, eine schöner als die andere, aber keine perfekt. Wer sich in diese alten Experimente vertieft, wird von dem ruhelosen Perfektionismus Newtons gefesselt. Und die Geschichte ging gut aus: noch zu Newtons Lebzeiten sollte einer seiner Schüler das perfekte Experiment zur Weißsynthese veröffentlichen. Das Experiment besticht nicht allein durch die reine weiße Sauberkeit seines Ergebnisses. Seine ästhetische Hauptattraktion ist die strenge Zeitsymmetrie des optischen Geschehens. Symmetrie: Hier haben wir eine der wohl wichtigsten Quellen physikalischer Schönheitsbegeisterung; sie wirkt bei Experimenten genauso wie bei Theorien. Bei der Zusammenstellung des modernen Teilchenzoos war die Schönheit der Symmetrien ein entscheidender Triebfaktor. Man suchte nach neuen Elementarteilchen, die das symmetrische Gegenteil bereits entdeckter Teilchenarten bieten sollten. Und man fand sie, eines nach dem anderen. Ohne Übertreibung lässt sich daher festhalten: Hätten wir Menschen einen völlig anderen Schönheitssinn, oder – Gott bewahre – überhaupt keinen, dann hätten wir eine völlig andere Physik. Gleichwohl bietet die Ästhetik den Physikern keine Erfolgsgarantie. Die nun 400-jährige Geschichte ihres Schönheitssinns ist voller Höhen und Tiefen. Nicht immer lagen sie richtig, wenn sie auf das Schöne setzten. Aber sie lagen um Dimensionen öfter richtig, als man rationalerweise erwarten wollte. Wäre ihr Sinn für Ästhetik auf bloß zufällige Weise mit der Treffsicherheit ihrer Modelle verknüpft, dann grenzte dieser Erfolg an eine mysteriöse Serie von Hauptgewinnen im Lotto. Wenn die Sache aber nicht auf Zufall beruht – worauf beruht sie dann? Dieses Rätsel ist bis auf weiteres ungelöst. Olaf L. Müller
Physik im Rausch der Schönheit? Darüber hat Olaf Müller vieles zu sagen: Olaf Müller erklärt uns, warum Kepler ein wichtiger Mann war und was seine Arbeit noch heute (400 Jahre nach der ersten Drucklegung der Weltharmonik) für uns bedeutet.

 

æ

Acquis Edition Eckart Rahn Potsdamer Platz 1 10785 Berlin Fernsprecher +49 30 3464 95050 Faksimile +49 30 8187 8866 rahn@acquis-edition.de